Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Ein paar grundsätzliche Worte, Teil 2

Denn auch das ist klar: der Hörfunk steht vor gewaltigen Umbrüchen. Vernetzte, individualisierte Medien, inzwischen auch mobil per Smartphone abrufbar, bieten bestimmte Dinge besser, die bisher nur der klassische Hörfunk vermochte (Stichwort Do-it-yourself-Radio). Spotify ist in alle mobilen Endgeräte integriert und hat alle Lieblingssongs sofort verfügbar. Sobald die mobile Bandbreite ausreicht, um nicht-lineare Dienste im Auto zu betreiben, sind viele traditionelle Radioprogramme überflüssig. Die Musik kommt dann von Spotify, der Verkehr von Google Maps und die Nachrichten als Podcast. Ich möchte Antworten auf diese Herausforderungen finden.

Gutes Radio kommt, genau wie gute Musik, vor allem aus dem Herzen, und ein bißchen auch aus dem Kopf. Darum lehne ich eine extreme Fixierung auf Music-Research ab. Die vermeintlich objektiven und nüchternen Zahlen täuschen zu leicht darüber hinweg, daß sie auch immer interpretiert werden müssen. Standard-Statistik kann gerade in einem kreativen Bereich viel behindern. Und Radiomachen ist ein kreatives Abenteuer, bei dem auch Fehler gemacht werden dürfen. Was bei der Masse funktioniert, kann man nie im voraus bestimmen. Sonst würden alle Songs zu Hits. Das Geld für Marktforschung ist häufig anderswo besser angelegt.

In einem Markt mit mehreren Anbietern des gleichen Formats ist vergleichende Beobachtung meine wichtigste Methode. Ich setze außerdem statt auf Call-outs auf qualitative Gruppenbefragungen.

Diejenigen, die sich zu sehr auf MaFo verlassen, kennen meist nicht die zugrundeliegenden Methoden derselben und können die auftretenden Probleme daher nicht richtig einordnen. Denn Marktforschung bildet eine komplexe Wirklichkeit nur teilweise ab, noch dazu immer auch interpretationsbedürftig. Unsere führenden Wirtschaftswissenschaftler haben mit genau solchen reduktionistischen Modellen die globale Finanzkrise 2008 nicht im Ansatz kommen sehen und können sie teilweise bis heute nicht erklären.

Darum muß man sich immer fragen: bildet mein Modell die Wirklichkeit ab? In einem Call-out meint man zum Beispiel, bestimmte Kriterien von Musikstücken (wobei nur extrem kurze Ausschnitte vorgespielt werden) messen zu können. Das Problem daran ist: die wichtigen Aspekte wie „Vergnügen“ sind nicht statisch. Sie variieren in kurzer Zeit innerhalb des Individuums. Daher stehen alle daraus abgeleiteten Programmentscheidungen auf tönernen Füßen.

„Wir haben das mal getestet.“ Wer kennt diese Aussage nicht, wenn es um den Einsatz von einem bestimmten Song oder Künstler geht. Und genau in dieser Aussage steckt das Problem. Was zum damaligen Zeitpunkt galt, gilt vielleicht heute schon nicht mehr. Außerdem hört man Mustiktitel ja nie isoliert, sondern eingebettet in ein (Lieblings-)Programm. Mit einer Anmoderation, einem schönen Musicsell davor und einem interessanten angeteasten nachfolgenden Beitrag. All das kann ein Call-out natürlich nicht berücksichtigen.

Überhaupt habe ich den Eindruck, daß die beeindruckenden Zahlenreihen der quantitativen Statistik oft nur zur nachträglichen(!) Rechtfertigung von bereits getroffenen Programmentscheidungen gegenüber den eigenen Mitarbeitern dienen. Wer will schon den gemessenen Zahlen widersprechen? Genau wie in der Wissenschaft: weil es nicht sein darf, daß Forschungsergebnisse nicht ausschließlich rational entstanden sind, wird im Nachhinein der Forschungsprozeß geglättet, so daß er zum Selbstbild paßt.

Die Frage ist also auch: ist ein Call-out valide, d.h. mißt das Instrument, was wir glauben, das es mißt? Wahrscheinlich nicht. Deshalb brauchen wir ein gutes qualitatives Meßverfahren, statt der Standard-Statistik (quantitativ).

Wir müssen uns auch von einem Menschenbild verabschieden, das uns als berechenbare, rationale und nutzenorientierte Wesen sieht. Das ist der postmoderne Teil meiner Philosophie. Wir sind eben gerade nicht rational, sondern wir sind kontrolliert von unseren Emotionen und Instinkten. Leider, oder Gott sei Dank! Das gilt sowohl für die Konsumenten, als auch für die Programm-Macher.

Wir sollten in unserer Theorie vom Radio den subjektiven (und damit psychologischen) Aspekt deutlicher hervorheben. Z.B. ist die Wahrnehmung der Rotationshäufigkeit nicht deckungsgleich mit der tatsächlichen Wiederholungsrate. Gerade bekannte Titel erscheinen so, daß sie häufiger rotieren, obwohl sie das gar nicht tun. Soetwas muß in der Planung mit berücksichtigt werden.

Auf Produzentenseite müssen wir uns auch klar machen: jede wahrgenommene Wirklichkeit ist durch Theorie geprägt, wie Thomas S. Kuhn es betont hat. Es gibt keine von uns unabhängig existierenden (und damit meßbaren) Tatsachen. Wir haben bestimmte Vorstellungen von der Wirklichkeit, die wir in die tägliche Arbeit einfließen lassen, und mit der wir wiederum Meßergebnisse wie Call-outs, MA-Zahlen, usw. interpretieren. Die Wirklichkeit an sich können wir aber prinzipiell nicht erkennen.

Wir brauchen deshalb noch eine wichtige Fähigkeit: Selbstreflektion und Selbstkritik. „Wir sind toll“ bringt uns definitiv nicht weiter, sondern näher an den Abgrund. Kognitive Dissonanz muß ausgehalten werden! Die klassischen Printmedien gehen gerade an ihrer Ignoranz zugrunde.

Auch die MA-Zahlen, also unser einziger Blick auf die Realität des Radiohörens, entstehen methodisch betrachtet nicht unbedenklich. CATI funktionierte in der Gesellschaft der 70er bis 90er Jahre, inzwischen lehnt die Mehrzahl der angerufenen Menschen Telefonumfragen ab, nehmen gar nicht mehr teil oder können dem langen Fragenkatalog schnell nicht mehr folgen. Der Anteil der Non-responder z.B. bei der ALLBUS-Umfrage stieg von 20% 1990 auf über 50% 2010. Das Schlimme: diese Ausfälle sind nicht zufällig, so daß der Teilnehmerkreis nicht mehr als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten kann, über die man eigentlich etwas in Erfahrung bringen möchte.

Handynummern werden erst seit der Herbstwelle 2014 mit in die MA einbezogen, und dort dürfte die Befragungsunwilligkeit noch stärker ausgeprägt sein. Daß die Probanden mehr oder weniger zufällige Daten produzieren, ist ein lange bekanntes Problem in der empirischen Sozialforschung, dazu kommt, daß die zahlreichen Methodenänderungen der MA in jüngster Zeit die Ergebnisse aus unterschiedlichen Wellen nicht mehr miteinander vergleichbar machen. Die erhobenen Daten werden dann noch weiterverarbeitet, Stundenwerte als Wahrscheinlichkeiten hochgerechnet, Stimmen mehr oder weniger gewichtet, usw.

Yvonne Malak hat in ihren Kolumnen bei der radioWOCHE auf diverse unerklärbare Brüche und Sprünge hingewiesen, die vermuten lassen, was die MA in weiten Teilen in Wirklichkeit ist: Kaffeesatzleserei auf hohem statistisch-mathematischem Niveau. Diesen Eindruck kann die befragte Fachfrau der ag.ma für mich nicht widerlegen. Wer schonmal ausführlich zu einem Thema telefonisch befragt wurde merkt meist schon an den Fragestellungen und vorgegebenen Antworten, welche Ergebnisse sich der Auftraggeber der Studie wünscht. Außerdem ist die ag.ma sicher nicht als unabhängige Institution zu bewerten.

All diese Überlegungen könnten uns veranlassen, einmal die ausgetretenen Pfade und die erlernten Paradigmen des Radiomachens zu hinterfragen. Thomas S. Kuhn beschreibt diese Phase (für die Wissenschaft) als „revolutionäre Periode“: eine Häufung von unerklärbaren Anomalien, die schließlich zu einer Neuinterpretation der Wirklichkeit führt. Wie das aussehen kann, darüber möchte ich mir in einem kommenden Beitrag Gedanken machen. Ein (neues) Paradigma könnte lauten: Ergebnisse von empirischer Sozialforschung sind prinzipbedingt sehr zweifelhaft und nicht als (alleinige) Grundlage für Programmentscheidungen brauchbar. Aber was nehmen wir dann stattdessen?

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Über den Autor

Rüdiger Mohr

Rüdiger hat Musikwissenschaft, Psychologie und VWL studiert (M.A.) und ist Betreiber von hoerfunkwerkstatt.de. Er arbeitet seit 2001 im Hörfunk, kennt verschiedene Formate von Oldie/Gold bis Hot-AC, Abteilungen (Musik, Nachrichten, Technik, Sendungsredaktion) und alle Organisationsformen von nicht-kommerziell, privat bis öffentlich-rechtlich aus der Innenperspektive.

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